Bruno Piglheins Panorama.
Jerusalem und die Kreuzigung Christi.
Von Ludwig Trost,
Stuttgart/Leipzig, 1887
Die Panoramen sind
beim modernen Publikum mit Recht sehr beliebt geworden. Sie sind eine
vortreffliche, ja in gewissem Sinn die vortrefflichste Vergegenwärtigung eines
Ereignisses und seines Schauplatzes. Der Beschauer steht mitten in der
dargestellten Szene, welche mit der Täuschung lebender Wirklichkeit vor sein
Auge tritt.
Es war natürlich,
dass die letzten glorreichen Ereignisse unserer Geschichte, welche von vielen
miterlebt, von allen mitempfunden worden waren, die siegreichen Schlachten des
deutsch-französischen Krieges, den ersten Darstellungsgegenstand der Panoramen bildeten.
Aber nicht immer konnten unserem Volk diese blutigen Kampfszenen mit verödeten
Feldern, brennenden Häusern, blitzenden Bomben und aufgehäuften Massen
Verwundeter, Sterbender und Toter zur Beschauung dargeboten werden. Das wäre
schon im Interesse der Menschlichkeit nicht zulässig.
Da ist nun ein Ereignis von großem
weltgeschichtlichem und zugleich echt menschlichem, von religiösem und
sittlichem Interesse, das allen Herzen nahe liegt und darum den lebhaften
Wunsch hervorruft, es aus der fernen Vergangenheit in die unmittelbar anschauliche
Gegenwart gerückt zu sehen: Der Versöhnungstod Christi am Kreuz.
Es war daher ein
großer und glücklicher Gedanke des kgl. Bayerischen Hautmanns Halder, ein
freudig zu begrüßendes Unternehmen, das dieser und Franz J. Hotop ins Werk
setzten: Die Kreuzigung Christi in möglichster Treue in einem Panorama zur
Darstellung zu bringen. - Die Ausführung freilich hatte eine Reihe eigenartiger
Schwierigkeiten zu überwinden, und es knüpft daran eine förmliche Geschichte,
welche wir auf Grund gütiger Mitteilungen des Münchener Kunstverlegers Friedrich
Adolf Ackermann wiedergeben.
Vor allem galt es für
die Unternehmer einen Künstler zu finden, der dem grandiosen Werk gewachsen
wäre. Dieser war in Professor Bruno Piglhein gewonnen. Der Künstler war
allerdings in weiten Kreisen vornehmlich bekannt und berühmt geworden durch die
ungemein flotte, virtuosrealistische Art, in der er in Pastellmanier Sujets aus
der eleganten Welt behandelt hatte. Allein sein großartiger Christus am Kreuz
in seiner vertieften naturalistischen Auffassung, der in der internationalen
Münchener Kunstausstellung viel bewundert worden war, eine Madonna von
eigenartigem Reiz, hatten bewiesen, dass der Künstler Sinn und Begabung für
ernstere ideale Stoffe habe. Vor allem aber besaß Piglhein, der Meißel und
Pinsel gleich sicher handhabt, die zu dem Unternehmen unbedingt gebotene volle
Beherrschung der Technik, wie vielleicht kein zweiter, und dazu die zur
Ausführung eines solchen Werkes ebenfalls unerlässliche Gabe, mit seiner
künstlerischen Art talentvolle Schüler vertraut und sie zu geschickten Gehilfen
seiner Arbeiten zu machen. Außer dem künstlerischen war aber auch eine
gewaltige und topographische Aufgabe zu bewältigen. Man hatte sich in eine
ferne Vergangenheit und einen weit abgelegenen Schauplatz zu versetzen. Die
Bibel und sonstige geschichtliche und archäologische Quellen mussten eifrig
durchforscht werden, um ein treues Bild von dem Jerusalem zur Zeit des Todes
Christi zu gewinnen. Der Künstler fand hierbei durch Herrn Professor Sattler in
München, welcher durch langjährige Studien auf diesem Gebiet sich eingehend
orientiert hatte, einen hilfsbereiten Ratgeber. Vor allem musste zur Erzielung
landschaftlicher Wahrheit der Schauplatz des heiligen Dramas an Ort und Stelle
selbst gründlich studiert werden. So zog denn Piglhein auch schnell mit den
geeigneten Künstlerkameraden, dem Architekturmaler Frosch und dem vorzüglichen
Landschaftsmaler Krieger, reisefertig ins gelobte Land. Stürmisch war die Fahrt
durch die Adria, beschwerlich die nach Alexandria, Kairo und Port Said und von
dort durch das levantische Meer nach Joppe (Jaffa), aber auch stürmisch schlug
das Herz der Künstler, als die Zinnen Jerusalems nach einer holperigen Fahrt
auf elender Landstraße endlich im Abendsonnenstrahl vor ihren Blicken lagen.
Ermüdet finden die Künstler mit der sie begleitenden Gattin Piglheins im
Johanniterhospiz ihr erstes Nachtquartier. An ein topographisches Studium der
Gegend ist vorerst nicht zu denken. Jupiter Pluvius sendet unendlichen Regen
herab, der drei Wochen anhält und Stadt und land in einen grauen Schleier
hüllt. Die Künstler mussten sich daher zunächst dem Studium der Leute zuwenden,
wozu in den engen und winkeligen Straßen Jerusalems Gelegenheit in Fülle sich
bot. Schnell füllt sich das Skizzenbuch mit allerlei Gestalten in bunter und
origineller Tracht; denn das Panorama soll ein figurenreiches Bild werden, es
müssen Köpfe und Gestalten für die verschiedenen Charaktere der Passionsszene
gefunden werden. Der gleiche Boden lässt nämlich nach vielfach bewährten
ethnographischen Gesetz auch nach Umfluss von langen Zeiträumen wieder ähnlich
geartete Physiognomien entstehen. Die Typen aller Volksklassen drängen sich in
farbenreichem Wechsel in die Skizzenbücher, und so ernst die Aufgabe, die zu
lösen ist, so heiter malt sich in diesen jugendfrohen Künstlerköpfen die
palästinensische Welt. Abend- und Morgenländer, Griechen, Armenier, Türken,
Kreter und Araber, Juden und Judengenossen leihen ihre Rassenköpfe.
An Mannigfaltigkeit
der Modelle fehlt es nicht, aber sie sind - kostspielig; befinden sich doch
Typen darunter, die für eine einzige Modellsitzung hundert Mark fordern. Das
rührt zum Teil von einem frommen Vorurteil her, mit welchem die Eingeborenen
sich gegen bildliche Aufnahmen ihrer Personen abwehrend verhalten. Manche
glauben sogar, dass sie bald sterben müssten, wenn sie photographiert oder
abgemalt werden. Aber mit Hilfe von München mitgebrachter Trockenplatten und
Momentapparate bemächtigen sich die Künstler mancher Gestalten frisch von der
Straße weg, ohne dass der Aufgenommene den Angriff auf sein persönliches
Exterieur merkt. - Endlich lichtet sich der Himmel, man besteigt die Pferde,
die Umgegend Jerusalems wird zur Rekognoszierung abgeritten; dann folgt ein
Ritt in die Wüste Juda, es wird einer frohen Jagdlust auf Mandelkrähen, Geier,
Schakale und Gazellen gehuldigt, doch das jagdbare Wild merkt sehr bald, dass
die Flinte in den Händen der Künstler kein so gewandtes Handwerkszeug ist, wie
Pinsel und Palette.
Die mitgebrachten
Empfehlungen seitens des päpstlichen Nuntius und des Erzbischofs von München
erleichtern die nun beginnende Arbeit der Verdutenmalerei. Piglhein dirigiert
seine Truppe; wie die Spione sitzen sie da und machen Terrainaufnahmen mit
einer Gewissenhaftigkeit, die der großen Aufgabe würdig ist. Alles wird von dem
Stift erfasst: Steingeröll und Höhlen, Baumschlag und Talsenkung und das
wichtigste für die Umgebung des weit umfassenden Panoramas: die eigenartige
bauliche Anlage der Dörfer und Weiler in der Nähe von Jerusalem. Aber um auch
das Künstlerauge im allgemeinen an die Charakteristik der palästinensischen
Landschaft zu gewöhnen, um es zu erfreuen an den verschiedenartigen Stimmungen
von Berg, Felsen, Wald und Luft, wird ein weiterer Ausflug ans tote Meer, in
das geräumige Jordantal und nach Damaskus unternommenen in der schützenden
Begleitung eines Dragomans und berittener Beduinen, welch letztere für allerlei
Kurzweil zu sorgen wissen.
„Reich mit des
Orients Schätzen beladen“ kehren unsere Freunde nach dreimonatiger Abwesenheit
über Konstantinopel mit dem Pariser Blitzzug wohlbehalten nach München zurück,
in Begleitung von Kisten und Kasten angefüllt von Sachen und Sächelchen, welche
die Passion des Orientreisenden und den Schmuck eines Künstlerateliers bilden.
Das Beste aber sind
die wohlverwahrten Skizzen, die keines Fremden Auge sehen darf; denn das
gewaltige Werk, das jetzt unter der einheitlichen künstlerischen Inspiration
erstehen soll, bleibt in strengster Klausur. Niemand darf vorzeitig etwas
verlauten lassen von dem, was sich geräuschlos in der Goethestraße 45 in
München vorbereitet. Nur wenig schaffende Hände sind es, die hier still ihrer
großen Aufgabe obliegen; es herrscht ein einmütiger, von Feuereifer
durchglühter Geist, das Auge blitzt, die Wange glüht, während das große Gemälde
vom Pinsel hervorgezaubert wird.
In der Zeit des
Aufenthaltes der Künstler in Palästina war man indessen in München nicht müßig
gewesen. Die Riesenleinwand von 15 Meter Höhe und 120 Meter in der Runde war
gespannt, eine Arbeit, schwieriger, als die Laienphantasie sie sich vorzustellen
vermag. Und nun muss diese ganze Fläche technisch präpariert und grundiert
werden. Die gesammelten Skizzen und der Wirklichkeit entnommene Studien kann
man aber nicht ohne weiteres auf das von mehreren Händen auszuführende Bild
übertragen. Sie müssen erst von einem leitenden Künstlergeiste zu einer
malerischen Gesamtidee, zu einer Hauptskizze vereinigt werden. Diese erfordert
hin und wieder unendlich viel künstlerisches Besinnen und Abwägen, namentlich
wegen der Eigenartigkeit des Stoffes. Es soll auf der einen Seite die
geschichtliche und natürliche Wahrheit festgehalten, auf der anderen Seite soll
alles vermieden werden, was die Erhabenheit der darzustellenden Szene
beeinträchtigen würde; mit Aufwand unsäglichen Fleißes und einer staunenswerten
Erfindungskraft ist Piglhein dieser Doppelaufgabe in seinem Entwurf in
schönster Weise gerecht geworden.
Ein volles Jahr hat
die rastlose Arbeit gedauert. Tag für Tag, so lange es das von oben
hereinfallende Licht gestattete, saßen Piglhein und seine Helfershelfer auf
kolossalen, durch Schienen beweglichen Fahrstühlen. Die erste Aufgabe ist nicht
die leichteste, es gilt: 500 Kilo Kremserweiß und 70 Kilo Ultramarin zu mischen
und in perspektivischen Abstufungen der Farbenskala als Luft und Atmosphäre auf
die ungeheure Leinwand zu bringen, ein Werk, unter welchem die Muskelkraft des
Armes häufig zu erlahmen beginnt, aber ein heiteres Gespräch, eine
Erholungspause und der Austausch lebendiger neue Kraft, und munter fließt die
Arbeit fort. Die Farbenreiber sind fertig; wie ein aufmarschiertes Regiment
stehen die Farbentöpfe mit ihren Mischungen und Nuancen da. Trockenpausen
werden benützt, um der zweiten Hauptschwierigkeit Herr zu werden, der
Perspektive, die bei den gewaltigen Dimensionen des Bildes einen Spielraum für
Auge und Phantasie auf Meilenweite schaffen muss.
Dann reiht sich die
Perspektive in der Figurengruppierung, denn viele Hunderte von Menschen, die
Golgatha zuströmen oder dort sich gesammelt haben, müssen, je nach ihrer
Entfernung, genau in den Größenverhältnissen berechnet werden. Endlich hat der
Meister auch hierfür das rechte Maß gefunden, und nun beginnt er mit sicherer
Hand zunächst in rohen Strichen und durch Punktierung die Gruppen zu ordnen,
dann mit Kohle aufzuzeichnen, wobei zur Erziehung anatomischer Wahrheit nur die
bloßen Körperumrisse ohne Bekleidung in den verschiedenartigen dramatischen
Bewegungen wiedergegeben werden.
Nach und nach wächst
auch die Stadt aus den einzelnen Bruchstücken zu einem architektonischen Bild
zusammen, Bäume, Wasser, Felsen gewinnen plastische Gestalt und stehen mit
stereoskopischer Wirkung vor den Augen. Die Felsengräber und schroff abfallende
Talsenkungen gestalten sich zu greifbarer Form, Golgatha selbst erscheint als
niedriges, aber weitgedehntes, flaches Felsenplateau, „Schädelplatte“ genannt,
nicht etwa, weil das der Verbrecherrichtplatz der Juden war, sondern weil sein
Profil, von weitem gesehen, die Bildung eines Schädels hatte. Der
landschaftliche Vordergrund erscheint öde, denn wilde, sterile Hügel und Talsenkungen
bilden die Umgebung Jerusalems, während weiter hinaus eine vegetationsreichere
Gegend das Auge erfreut. Mit dem sichtbaren Fortschreiten des Rundgemäldes
wächst der Gesamteindruck, bis endlich auch die Figuren bekleidet werden
können, deren orientalisch malerische Gewandung in ihren verschiedenen Trachten
wesentlich zur Aufhebung der Farbmonotonie beiträgt. Zu den fleißigen Künstlern
haben sich nun auch die Maler Heine und Bloch (letzterer ein Schüler Piglheins)
gesellt, welche freudig zu dem Gelingen des Ganzen mit Hand anlegen.
Welcher Maler, Schriftsteller,
Schauspieler, welcher Künstler überhaupt hätte nicht in der mehr oder weniger
langen Zeit, in der er seine große Aufgabe in sich verarbeitet, in welcher alle
Gewebe der Phantasie ihre plastische Wirkung, ihr wohlgeordnetes Gefüge
erhalten Tage und Stunden gehabt, in welchen er plötzlich zaghaft den kopf, die
schaffende Hand sinken lässt! Es tritt ein Zustand der Erschlaffung ein und
bängliche Zweifel wühlen dann in seiner Brust: Wird dein Werk ein gutes,
abgerundetes Ganzes werden? Sind nicht Mängel vorhanden, die das Publikum
verstimmen oder geradezu irreführen? Was wird die Kritik sagen? Und wird dein
unermüdliches Schaffen, wird die Anspannung
deiner geistigen und physischen Kräfte genug gewürdigt? Werden nicht die
Leiden und bitteren Nachwehen, welche die vielköpfige öffentliche Meinung dir
bereiten kann, alle deine Erwartungen zunichte machen? Wird nicht Verbitterung
der Lohn jener Liebe sein, mit welcher du dein Kunstwerk wie mit dem Herzblut
geschaffen hast? - Solche Gedanken haben auch Piglhein zuweilen beschlichen,
wenn er, sein Künstlerhaupt auf die Brust gesenkt, von Lethargie befallen, die
Augen sinnend über die ungeheure Leinwand schweifen ließ. Galt es doch für den
vorwiegend naturalistisch veranlagten Künstler, in diesem Bilde auch den
Idealismus zu seinem Recht kommen zu lassen und auf Wünsche und Bedürfnisse des
großen Publikums, das bei einem Panorama viel des Interessenten schauen will,
nach Möglichkeit Rücksicht zu nehmen.
Bei dem stillen
Schaffen der Künstler, das keine Störung duldete, wobei man kein Wort über die
Darstellung selbst aus der großen Werkstatt hinausdringen ließ, war es
begreiflich, dass das Publikum aufs äußerste gespannt war, als man die
Vollendung des Panoramas ankündigen konnte. Wir haben den Rundbau nicht ohne
ein Gefühl der Beklommenheit betreten, denn es hatten uns Zweifel beschlichen,
ob Piglhein, der uns nach seinen bisherigen Arbeiten mehr ein Künstler als für
das große Publikum schien, ein Panorama im populären Sinne schaffen würde.
Beim ersten Betreten
des Podiums, welches als eine Anhöhe neben dem Golgathahügel gedacht ist,
stutzten wir etwas ob der Dämmerung, die uns umfing. Nach dem plötzlichen
Übergang aus der Tageshelle musste sich das Auge erst daran gewöhnen, bis
allmählich die malerische Wirkung, deren schleierhaftes Dunkel durch die
während der Kreuzigung Christi herrschende Sonnenfinsternis gerechtfertigt ist,
wie aus einem Nebel heraustrat. So erfassten wir, wenn auch langsam, die
eigentümliche Stimmung in der Beleuchtung, mit dem Vorherrschen jener kalten
Töne, welches unser Auge beispielsweise dann wahrnimmt, wenn die grelle
Sommersonne hinter Gewitterwolken tritt. Das Piglhein’sche Panorama ist ein
Werk aus einem Guss und trägt in allen Beziehungen den Stempel künstlerischer
Originalität und Meisterschaft an sich, man mag den landschaftlichen oder den
architektonischen oder den figuralen Teil ins Auge fassen. Dazu liegt über dem
Bild, dank der ungemein zarten und feinsinnigen Lichtgebung, etwas Feierliches,
Hoheitsvolles, wir möchten sagen Überirdisches, was den Beschauer sofort in
eine weihevoll ernste Stimmung versetzt. Durch diesen über das Ganze gegossenen
Hauch der Idealität wird aber die Darstellung der Wirklichkeit nicht beeinträchtigt.
Alles, was das Auge schaut, entstammt ja derselben: jeder Baum, jede Straße,
jede Terraingestaltung, jedes Haus und Mauerwerk. Wer eine üppige Landschaft,
eine architektonische Prachtstadt in Salomonischer Herrlichkeit erwartet, wird
vielleicht enttäuscht sein; wir sehen eine sterile Gegend, eine dürre,
sonnenversengte Vegetation, nackte, zerstückelte Felsen und eine Stadt,
architektonisch aufgeschichtet wie ein Trümmerhaufen, aber so ist, so war eben
das wirkliche Jerusalem und seine Umgebung. In Landschaft und Architektur
verlangt unsere Zeit mit Recht Wahrheit, und es ist ja auch der Zweck des
Panoramas, Jerusalem vor Augen zu stellen, wie es wirklich war. Wir haben auch
gleich beim Betreten des Podiums den Eindruck, nicht einem Bild, sondern der
Wirklichkeit gegenüberzustehen, indem eine aus wirklichen Steinen
aufgeschichtete Pyramide im Vordergrund in einer dem Auge unwahrnehmbaren Weise
zu den Resten einer orientalischen Mühle auf dem Rundgemälde überleitet. Man
sieht sich unmittelbar in die Landschaft versetzt, deren Durchwanderung wir nun
in den nachfolgenden Zeilen, getragen von den erhabensten Empfindungen,
antreten.
Wir beginnen mit der Erklärung beim Ausgangspunkte des wundervollen Rundgemäldes. Der halb kahle Baum, welcher neue Blüten zu treiben scheint, ist eine uralte Pistazie aus der Familie der Terebinthaceen, welche in Syrien und an den Küsten des Mittelmeers wachsen und mandelartige Früchte tragen. - Dahinter liegt der Olivenhain, welcher schon zur Zeit Christi längs des von Flavius Josephus Schlangenteich genannten Gibonteichs sich hinzog, an dessen Gestaden das Prophetenwort des Jesaias ertönte. - Oberhalb des Olivenhains erstreckt sich ein langgezogener Hügel, zu dessen Hissen die Strasse nach Joppe führt. - Kreuzfahrer erblickten von hier aus zuerst die heilige Stadt. Auch heute noch hält hier der in Jaffa gelandete Fremde kurze Rast und breitet in stummer Andacht sehnend seine Arme aus nach Jerusalem.
Die erste lebende Gruppe unseres Panoramas bilden vier jüdische Frauen mit einem Kinde, welche, den Blick auf Golgatha gerichtet, ehrfurchtsvoll und mit geheimem Grauen aus weiter Entfernung der Kreuzigung zuschauen und in der Sonnenverfinsterung deren Wirkung anstaunen.
Je mehr wir uns nun dem Golgathabügel nähern, desto lebendiger wird die Landschaft. Auf den gewundenen Wegen über Hügel und durch Schluchten eilen Handelskarawanen mit ihren beladenen Kamelen den schützenden Thoren Jerusalems zu. - Das Licht eines mitten am Tage durch die Sonnenfinsternis sichtbar gewordenen Sternes hat sie erschreckt, Bestürzung hat sich ihrer bemächtigt. Die vordere Karawane hofft Jerusalem zu erreichen, die zweite, weiter zurückgebliebene, gedenkt ein Obdach in der Karawanserai zu finden, deren hell schimmernde Kuppel weit herüber blickt; in dieser Herberge ist geräumige Unterkunft für Menschen und Lasttiere vorhanden. Lebensmittel bringen die benachbarten Bewohner, um Waren von Damaskus dafür einzutauschen. Über keine Einzelheit des Piglhein'schen Panoramas darf hinweggesehen werden, weil jede sowohl auf genauer Beobachtung beruht, als auch nach irgend einer Seite hin von Bedeutung ist. So bemerken wir oberhalb der Karawanserai am Horizont ein turmartiges Mauerwerk, welches als Warte einen freien Ausblick nach allen Seiten gestattet und damit die Möglichkeit bietet, ringsum Spähe zu halten, ob nicht Land und Leute oder die auf offenem Felde weidenden Herden von einem feindlichen Überfalle bedroht werden. -- In der flachen Talmulde deutet ein seichtes Wasser an, dass die Regenzeit vorüber, die Sonne hat fast das ganze Wasser aufgesogen, ein Rest verblieb zur Tränke für die Herden. - Nicht weit davon, nahe am Vordergrund, zeigt sich ein malerisch interessantes Bauwerk, auf dessen Plattform ein klagender Hirte steht, während andere Hirten trachten, vor dem unheimlichen Dunkel der Sonnenfinsternis in ihrer Ansiedelung Schutz zu finden. - Hirten waren bei der Geburt Jesu zugegen, der Künstler lässt sie auch am Lebensende dessen erscheinen, der ja vor allem der "gute Hirte" war.
Wir schreiten zum nächsten Bilde, das uns eine bewegte Volksmenge in leidenschaftlichstem Durcheinander vor Augen führt. Es ist das Volk von Jerusalem in allen Alters- und Rangabstufungen, dessen Gunst und Hass der Heiland in den letzten Tagen seines Erdenwallens an sich hat erfahren müssen. Hass und Satire malt sich auf den Gesichtern der einen; denn eben verkündet von einer schroffen Felsenkante des Golgathahügels herab ein Mitglied des hohen Rates den Wortlaut der Inschrift, die am Kreuze auf der weißen Tafel (Sanis) oberhalb des Hauptes Jesu in griechischer, lateinischer und wahrscheinlich auch hebräischer Sprache angebracht ist: "Jesus von Nazareth", mit dem in ironischem Sinne gemeinten Beisatz: "der Juden König", durch den zugleich auf den Grund hingewiesen werden soll, um deswillen der Gekreuzigte büße. Mit höhnendem Geschrei und mit Verwünschung wird diese Botschaft entgegengenommen. Von dem Volke teilt sie einer dem andern mit; Herzensroheit, Neugier und Vertiefung, Unwissenheit, Ruchlosigkeit und Entmenschtheit malt sich auf den Gesichtern derer, die vor Pilatus schrieen: "Kreuziget ihn!" Eine Gruppe reichgekleideter Juden starrt nach der andauernden Verfinsterung der Sonne; sie fürchtet im möglicherweise bevorstehenden Weltuntergang den Verlust ihres Mammons - Golgatha ist ihr gleichgültig. Dicht geschart und wie ängstlich eingekeilt drängt sich eine lärmende Menge von Männern und Frauen, Greisen und Kindern in einer langen Felsenspalte. Nur die Sorge für das eigene liebe Ich, mit dem Ausdruck des Entsetzens gemischt, malt sich auf diesen Gesichtern; in keinem eine Spur von Mitgefühl oder eine Ahnung von der Würde und dem Werke des am Kreuze Auslöschenden.
Aber noch andere Gruppen drängen sich unseren Blicken auf, denen Piglhein das charakteristische Merkmal ihres Empfindens in Haltung und Gebärde ausdrückte. Gleich hinter einer Gruppe von zerlumpten Bettlern und Krüppeln, Langfingern und Tagdieben, die für ihren Müßiggang keine willkommenere Gelegenheit finden konnten, als das Schauspiel auf Golgatha, stehen in hochmütiger und selbstgefälliger Haltung die Hohenpriester Kajapha und Hanna, mit überlegenen Mienen den Augenblick. erwartend, wo Jesus sein Haupt zum Tode auf die Brust sinken lassen wird.
Auch eine Gruppe von Schreiern und Allesbesserwissern macht sich bemerkbar, von Großsprechern, die, wenn eine Möglichkeit zur Tatsache geworden, damit prahlen, dass man das ja alles so vorausgewusst und kommen gesehen habe, während eine Gruppe stattlicher und hübsch gekleideter Frauen und Mädchen, die aus einem tiefgelegenen orientalischen Brunnen Wasser geschöpft, dem Vorgange nur eine geteilte Aufmerksamkeit zuwendet. - Auch der Reichtum stolziert im Prunkgewande oder reitet auf stolz gezäumten Kamelen; bei ihm gehört es zum guten Ton, ein solches Ereignis mit eigenen Augen gesehen zu haben; apathisch schleicht dagegen die Armut umher. Alles, was hier in dichtgedrängten Haufen lärmt und durcheinander sich schiebt, ist bei allem dramatischen Leben individualisiert; in jeder der Hunderte von Figuren kommt ein psychologisches Moment zum Ausdruck.
Am Horizont zur Linken des Beschauers zeigen sich Stadt und Bergkuppe Mizpa, auf deren Anhöhe Samuel, den Denkstein Eben-Ezer mit den Worten: "Bis hierher hat uns der Herr geholfen", nach einem glänzenden Sieg über die Philister setzte, und wo Saul durch das Los zum König erwählt wurde. In der Mitte des Orts erhebt sich eine Moschee, in der eine Stelle als das Grab Samuels bezeichnet wird. Noch ein wenig weiter links liegt der Flecken Emmaus (deutsch Warmbronn), wohin bekanntlich am Nachmittag des Ostersonntags zwei Anhänger des Herrn wanderten, der sich dann selbst zu ihnen gesellte, den sie aber erst abends, im Dorfe einkehrend, am Brotsegnen und Brotbrechen erkannten, worauf der Auferstandene ihnen wieder entschwand. Zur äußersten Rechten dagegen, unweit der nach Damaskus führenden Strasse, sieht man einen Steinbruch und in den steilabfallenden Felsen der Strasse eine käfigartige Grotte, in welcher in anachoretischer Abgeschiedenheit der Prophet Jeremias seine Klagelieder über das zerstörte Jerusalem dichtete; dieselben werden noch heute in den katholischen Kirchen während der drei letzten Tage der Karwoche gesungen. Jetzt ist bei dieser Grotte ein Hauptbegräbnisplatz der in Jerusalem lebenden Mohammedaner. Endlich sind auf diesem Abschnitt des Panoramas noch die Felsengräber des Nikodemus und des Joseph von Arimathia zu erwähnen, in welch letzterem Christus nach seiner Abnahme vom Kreuze beigesetzt wurde.
Wir befinden uns nunmehr auf dem breitgedachten, flachen Plateau des Golgathafelsen. Die Kreuzigungsgruppe zeigt uns den erhabenen Dulder in seiner letzten Leidensstunde. An dem zur Rechten Christi befindlichen Kreuze hängt in stummer Resignation der reumütige Schächer Dismas, dessen Hände und Füße mit Stricken festgebunden sind, am Kreuze zur Linken der Verbrecher Gestas (Stegas, der Schweigsame, der Verhärtete). Die drei Gekreuzigten sind mit dem Gesicht nach Westen gerichtet, sie müssen der Sitte gemäß der Stadt den Rücken zukehren, damit sie nicht Verwünschungen über sie ausrufen können. Es war zwischen 3 und 4 Uhr nachmittags nach unserer Rechnungsweise, als Jesus verschied.
Die Kreuzigung war eine spezifisch heidnische Strafe, eine raffinierte Erfindung zu dem Zweck, den Tod der Gerichteten so qualvoll als möglich zu machen. Die Juden kannten diese entsetzliche Strafe nicht. Was Jesus litt, war also römische Landespraxis, jedoch schon so sehr Gewohnheit geworden, dass das jüdische Volk von selbst das "Kreuzige !" rief.
Diesen Tod erlitten damals hauptsächlich politische Verbrecher und Hochverräter; er tritt nicht gleich ein wie bei Gehängten. Hände und Füße sind an den Stellen durchbohrt, wo sich die reizbarsten Nerven konzentrieren; der durch das Ausstrecken der Gliedmassen hervorgerufene stechende Schmerz wirkt zusammen mit der furchtbaren Hemmung der Blutzirkulation, wodurch peinvolle Kongestionen in den edlen Organen des Herzens und Gehirns entstehen. Die Kreuzesqual dauerte oft tagelang; Krampf, Erschöpfung, Hunger und Durst sind die traurigen Begleiter solcher Stunden. Der erhabene Dulder auf Golgatha erhielt nach einem schmerzlichen Ausruf einen schwachen Labtrunk aus einem auf einem langen Ysopstengel befestigten, mit der Posca, das heißt mit Wasser und Essig, getränkten Schwamm; es war dies das Getränk römischer Soldaten bei großer Hitze. Die Benetzung der Lippen mit diesen kühlenden Tropfen konnte die Qualen dessen nicht lindern, der vor allem auch innerlich litt, wie der Ausruf bezeugt: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!" wenig verkünden die Evangelisten über den Abschied des Heilandes von seiner Mutter. Es mag deshalb in aller Kürze angeführt werden, was die "Akten des Pilatus" - Pilatus soll über die Vorgänge bei der Verurteilung und dem Tode des Herrn, sowie über dessen Auferstehung nach Rom berichtet und Tiberius sogar im Senat daraufhin angetragen haben, Christum unter die Götter zu versetzen hierüber erzählen:
Zunächst war der Lieblingsjünger Johannes dem Zuge gefolgt, dann floh er weg und brachte der Mutter Jesu gleichzeitig den Bericht der Verhaftung und der Hinausführung. Mit lautem Ausruf bejammert Maria das Schicksal des Unschuldigsten, dann eilt sie, begleitet von den galiläischen Frauen und von Johannes, weinend auf den Weg, den Sohn zu sehen. Johannes zeigt ihr, wie er, die Dornenkrone auf dem Haupt, mit gebundenen Händen einherschreitet. Ohnmächtig fällt sie zur Erde, die Begleiterinnen im Kreise herum weinen. Endlich steht sie wieder auf, schreit laut: "Mein Herr, mein Sohn, wohin ist die Schönheit Deines Antlitzes untergegangen? Wie kann ich es ertragen, Dich so leiden zu sehen ? Wohin ist all das Gute gegangen, das Du in Judäa getan ? Was hast Du Böses den Juden getan?" So schrie sie, die Brust. schlagend, das Antlitz mit den Nägeln zerkratzend. Die Juden trieben sie vom Weg; doch sie blieb, sie rief: "Tötet mich zuerst, ihr ungerechten Juden1" Unter dem Kreuz rief sie dann beständig: "Mein Sohn, mein Sohn! Neige dich, Kreuz, dass ich ihn umarme".
Jerusalem und Umgebung ist in ein melancholisches Dunkel gehüllt, gleichsam in einen Trauermantel für den scheidenden Erlöser, der sein Haupt geneigt; Golgatha und die hier sich abspielende weltgeschichtliche Handlung ist dagegen von einem Lichtstrahle getroffen.
Die Tätigkeit der Exekutoren hat aufgehört, die Henkersknechte werfen nach aItrömischem Brauch das Los um die Kleider des Gekreuzigten. Ehrerbietig stehen die Angehörigen und Freunde in gemessener Entfernung vom Kreuzesstamm, voran Maria, das Haupt wie fragend zu dem Antlitz des Sohnes erhoben, dessen tröstende Blicke auf sie gerichtet sind; es ist wie eine letzte Zwiesprache zwischen Mutter und Sohn, und die Umstehenden: Maria Kleophas, Johannes, Maria Magdalena, Maria Salome, Simon von Cyrene, der ihm das Kreuz trug, Susanna, die Witwe des Jairus, deren Kind Jesus vom Tod erweckt hatte, Johanna, die Gemahlin des Herodianischen Königsbeamten Chuza, lauschen alle auf jedes Wort, welches noch von den Lippen des Gekreuzigten fließen soll. Auch zwei ältere würdige Freunde des Heilandes stehen klagend neben einander: Nikodemus, der nachts zu Jesu kam, um seinen Lehren zu lauschen, und Joseph von Arimathia, ein reicher und angesehener Mann, der sich nach gerade von Pilatus den Leichnam erbat und denselben, in Leinwand gehüllt, in sein eigenes, neues, noch unbenütztes Felsengrab bettete. Jene weibliche Figur, welche, ein Tuch haltend, gesenkten Hauptes neben Susanna steht, nämlich die heilige Veronika, die Witwe St. Amators, nach den Clementinischen Homilien (zweites Jahrhundert) die Tochter der Kanaanäerin Justa. Die Veronikalegende tritt in vielfachen Wendungen auf, die bekannteste ist diese: "Als Jesus zur Kreuzigung ausgeführt wurde und unter der Last des Kreuzes zusammensank, eilte eine mitleidige Frau herbei, die ihm mit ihrem Schleier den Schweiß von der Stirn trocknete. In diesen Schleier drückte sich das Angesicht des Herrn ab." Es ist ein sinnreicher Einfall, wenn einige von daher den Namen Veronika, das heißt das wahre Bild, vera icon, leiten. - Dieses Bild ist der Typus für das Antlitz des leidenden Christus geworden, während das Bildnis, welches der Sage nach der Fürst Abgarus von Edessa, der sich wegen Heilung eines körperlichen Leidens brieflich an Jesus wandte, von diesem gleichzeitig mit der Antwort auf seinen Brief erhalten hatte, mehr den lehrenden Christus darstellt. - In Kürze sei noch angeführt, dass die Veronikasage im Laufe der Jahrhunderte vielfach behandelt, mehrfach auch dichterisch verwertet worden ist; so erzählt die Kaiserchronik (Gedicht des zwölften Jahrhunderts von 18'578 Reimzeilen), dass dem römischen Kaiser Tiberius Würmer in seinem Haupte gewachsen seien; da erfuhr er von den wunderbaren Heilungen Christi und sandte einen Boten zu ihm nach Jerusalem. Dem Boten sagte Veronika, dass Christus bereits drei Jahre tot sei, dass sie aber ein Bild von ihm besitze. Sie begab sich hierauf mit dem Bilde auf das Schiff und nach Rom, während Pilatus von dem Boten gefesselt dorthin und vor den Kaiser gebracht wurde. Der Kaiser wurde durch das Bild gesund, die Würmer fielen tot vom Leib. Von ihr erhielt dasselbe Clemens, einer der Vorsteher der christlichen Gemeinde in Rom (Bischof), und auch in der umfassenden geschichtlichen Einleitung zum so genannten "Schwabenspiegel", einem deutschen Rechtsbuch aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, wird berichtet, dass dieses Bild zu "Rom" sich befunden habe. Jetzt wird die Peterskirche als im Besitz desselben genannt.
Bei der Gruppe zunächst am Kreuz erblicken wir noch die martialische Gestalt des römischen Hauptmanns Ktesiphon, der vor seiner Taufe Longinus geheißen haben soll, und der von Pilatus beauftragt war, die Vollziehung des Todesurteils zu überwachen. Ktesiphon ist in dem Augenblick dargestellt, wo er in staunender Ergriffenheit den Arm erhebt und ausruft: "Wahrlich, dieser war gerecht; er war wirklich Gottes Sohn!" In dem rechts von ihm befindlichen schmerzbewegten Paar erkennen wir den von den Toten auferweckten Lazarus von Bethanien und seine Schwester Martha. - Noch verdient unsere Beachtung der römische Legionssoldat Longinus, dessen Namen einige für fingiert und von dem griechischen Worte longche (Lanze) abgeleitet halten, so dass er also der Lanzenträger hieße. Nach den Bollandisten - so werden nach dem Jesuiten Bolland die Herausgeber der Heiligenacta genannt - soll er aus der Provinz Isaurien in Kleinasien stammen und vor seiner Bekehrung Cassius geheißen haben. Als er mit der Lanze die Seite des bereits verschiedenen Jesus öffnete - den beiden Schächern wurden, um ihren Tod vor dem Ostersabbath herbeizuführen, die Beine zerbrochen, kam sogleich "Blut und Wasser" heraus. "Dieses Blut habe der Soldat aufgefangen und sich damit die Augen bestrichen, und damit wurden ihm, wie ein alter griechischer Dichter singt, die Augen geöffnet" - der Dichter meint wohl damit die Öffnung des "geistigen" Auges. Die außerordentlichen Ereignisse sowohl beim Tode Jesu, als nach demselben, brachten nun Longinus, wie dessen Hauptmann Ktesiphon) zu der Überzeugung, dass der Nazarener mehr als ein Mensch war. Der Soldat ließ sich taufen und führte zu Cäsarea in Kappadozien durch 28 Jahre ein in christlicher Liebe werktätiges klösterliches Leben. Auf Befehl des Statthalters Oktavius erlitt er den Martertod (am 15. März). - Was die "heilige Lanze" dieses Longinus betrifft, welche die Kaiserin Helena nebst dem heiligen Kreuze und den übrigen Leidenswerkzeugen entdeckt hatte, und die im ersten Kreuzzuge 1098 in Antiochia wieder aufgefunden wurde, so soll deren Spitze aus Konstantinopel durch Balduin II. nach Venedig verpfändet, von da nach Paris, der Schaft aber später als Geschenk nach Rom gekommen sein. - So die Bollandisten. Dagegen rühmten sich die deutschen Könige des Besitzes der heiligen Lanze (sie soll sich jetzt in Prag befinden), ja sie wird in der bereits erwähnten Einleitung zum Schwabenspiegel mit dem wichtigsten politischen Akt des Mittelalters, mit der Gründung des "fränkisch-deutschen Reiches", in Beziehung gebracht. In der "künege buoch" heißt es, dass Karl der Große nach Rom zu Papst Leo, seinem Bruder, gereist sei. Der Papst habe ihm die Kaiserwürde verliehen und als Insignien derselben "die krone geben, diu gote uf sin houbet gedruct wart, unde daz sper, da mite got durch sine siten gestochen wart". Die heilige Lanze gehörte zu den Reichskleinodien. - Die keltisch-germanische Sage nennt diese Lanze an hervorragender Stelle, sie gehört zu den von verschiedenen Wundern umgebenen, hochverehrten Heiligtümern. Mit der Gralmythe waren eine blutende Lanze und ein verstümmelter König in Verbindung gebracht; ein Engel bringt sie und nach der Heilung ist sie verschwunden.
Die ganze Szene auf Golgatha wirkt ergreifend durch ihre einfache Wahrheit; kein störender Zug geht durch diese Versammlung, deren Blicke und Herzen nur dem einen Erhabenen zugewendet sind. Es ist hier ein Augenblick bildlich verkörpert, der unseres ganzen seelischen Empfindens sich bemächtigt und uns in weihevoller, ernster Stunde zu stiller Selbsteinkehr führt.
In der Kreuzigungsgruppe ist dem Künstler das Höchste in Konzeption gelungen: die ganze Handlung findet sowohl äußerlich in Blicken und Bewegungen der Personen, als auch innerlich in den sie beseelenden Empfindungen ihren Mittel- und Brennpunkt in dem göttlichen Leidenshelden am Kreuz. Dadurch und durch das Bezogensein aller einzelnen Partien auf den Akt auf Golgatha ist die für ein wahres Kunstwerk unerlässliche Einheit in dem scheinbar in Episoden sich zerteilenden Rundgemälde vollkommen hergestellt.
Der Künstler hat auch das schwierigste Problem seiner Aufgabe: die Darstellung des sterbenden Christus, mit Glück gelöst. Es ist ein wirkliches Sterben eines von Schmerz und Qual erschöpften Menschen, ein Auslöschen des Lebensfunkens, und doch wieder ruht auf dem Antlitz des Sterbenden eine so hoheitsvolle Ergebung, ein so heiliger Friede, dass wir die versöhnende Macht des Todes, die welterlösende Macht dieses Todes mit ahnungsvollem Schauer empfinden. Von dem Hauptvorgang wenden wir uns weiter nach rechts. . Da ist eine kleinere Volksschar, die aus dem Fisch- oder Richttor, das nach dieser Seite hin die festgefügten Ringmauern von Jerusalem unterbricht, gegen Golgatha hinzieht. Über den vor uns liegenden Teil der Stadt sehen wir die Burg Antonia mit ihren vier festungsartigen Quadrattürmen mächtig emporragen, fast einem modernen Schlosse gleichend. In strammer Haltung stehen die Legionssoldaten namentlich vor dem genannten Tor, aus "welchem soeben noch Nachzügler hervorgetreten sind, die das schaurige Schauspiel nicht ganz versäumen wollen. Auf der Höhe selbst wehrt ein Berittener den Zutritt zu der Richtstätte. Nur wenige sind es, die von dieser Seite den Golgathahügel besteigen konnten, Männer und Frauen, die in ehrfürchtiger Betrachtung ihre Blicke dem Kreuze zuwenden.
In abgewandter, rührender Haltung steht ein betendes Weib da; ihr Auge sucht den Himmel und in diesem Trost für ihr durch das Unerwartete gebeugtes Herz.
Zwei andere Frauen in üppiger Kleidertracht, denen nun es ansieht, dass sie, in Wohlleben und eitler Weltlust aufgewachsen, mit allen Sinnen am nichtigen Tand zu hängen gewohnt sind, beugen sich nieder vor der hehren Erhabenheit des duldenden Messias, und die eine von ihnen hebt bewundernd, in voller Anerkennung der Heiligkeit dieser Stunde, den Arm empor, während auf den Festungsmauern, die dem Kreuzigungshügel zunächst liegen, vorwitzige Neugier in Gestalt eines Haufens sorgloser und wenig teilnahmsvoller Menschen Platz gefasst hat.
Oberhalb der Burg Antonia gewahren wir ganz im Hintergrund, in dieser Entfernung kaum mehr unterscheidbar, das kleine Zeltlager armer Pilger aus Galiläa, die zum Osterfeste herbeigekommen sind.
Nun erweitert sich der Raum zwischen unserem Standplatz und den Mauern der Stadt, und es ist damit dem Künstler Gelegenheit zur Entfaltung einer größeren Menschenmenge gegeben. Hier Geschrei und Lärm der müßigen Gaffer und neu herbeieilender Massen, dort Blasiertheit und stumpfsinnige Gleichgültigkeit, die dem Vorgang völlig teilnahmslos gegenüberstehen. - Eine Reihe von Zelten ist unter der Stadtmauer aufgeschlagen, welche den Maklern und Schächerern jener Gattung gehören, wie sie Jesus aus dem Tempel trieb. Dieselben benützen heute den großen Zulauf, um ihre Waren an den Mann zu bringen. Da wird gefeilscht und gehandelt, gegessen und getrunken, und ist dann noch Zeit zum Schauen, so schlendert man wohl hinauf zu der Richtstätte, um Auge und Sinne an dem Schrecklichen zu weiden. Vollends abgestumpft zeigt sich ein Kaufmann, der keine anderen Interessen kennt, als den reichen Schatz seiner großen Ölkrüge zu zählen, die hier vor der Stadt mit anderen Waren aufgespeichert sind. Mit knappen Befehlen herrscht er seine Diener an, die unter der Warenlast keuchen; für die abziehende Karawane werden Kamele beladen. Für ihn gibt es nicht eine Minute müßiger Kurzweil; Zeit ist Geld. Die Gruppe der zur Abreise fertigen Kamele, auf deren Rücken die Führer mit Weib und Kind reiten, ist äußerst malerisch, ein kleines, echt morgenländisches Genrebild für sich.
Schauen wir von da weg auf die Stadt, so fällt uns, etwas links über dem Ecktor oder alten Tor, eine Säulenhalle in zirkusartiger Architektur in die Augen, der Xystus. In seiner unmittelbaren Nähe erhebt sich - auf dem Platze des 588 vor Christus von Nebukadnezar zerstörten prächtigen Salomonischen Tempels - der Herodianische, einem Gefängnisse modernen Stiles nicht unähnlich.-- Der Xystus war Rennbahn und Schauplatz der Kampfspiele und mannigfacher Belustigungen, so dass es bei den orthodoxen Juden großes Missfallen erregen musste, dass der griechischer Sitte zuneigende Hohepriester Jason ihn so nahe der heiligsten Stätte erbaute; man erblickte darin das Bestreben, das jüdische Volk den mosaischen Gesetzen zu entfremden. - Hier hatte auch Titus sein Standquartier aufgeschlagen, als er nach Eroberung des Tempels Jerusalem zur Unterwerfung zwang.
Aus dem Vorhof, der gegen den Ölberg zu gelegen war, vertrieb Jesus, von Eifer für das Haus Gottes entflammt, die Händler und Wechsler, welche außer dem Verkauf von Opfertieren, die zum Osterfeste seitens des Volkes große Abnahme fanden, auch in Geld Geschäfte machten.
Weiter nach rechts zeigt sich ein hallenreicher, stattlicher Bau, der Palast der Hasmonäer, welcher, abwechselnd mit der Königsburg, dem Herodes zur Residenz diente.
Am Tage des Gerichtes über Jesus sandte Pilatus ihn hierher zu Herodes, der ihn zum Spotte mit einem weißen Prachtgewande bekleiden (König Salomo hatte neben purpurnem ein weißes Prachtkleid und auch bei den Römern stand neben, ja über dem Purpur als Festkleid das weiße Kleid) und so zu Pilatus zurückführen ließ.
Recht im Gegensatz dazu folgt an einer verfallenen Mauer eine Gruppe von hungernden Bettelweibern und zerlumpten Aussätzigen, die trotz ihres armseligen Daseins nicht sterben mögen, so lange sie noch eine Brotrinde zu benagen haben. Vielleicht hatten sie sich auch an dieser Stelle gelagert, um zur Heilung von ihrem hoffnungslosen Siechtum den Saum des Kleides des Herrn zu erhaschen, denn gerade hier geht der Marterweg, die via dolorosa vorbei, auf welchem der kreuztragende Heiland, aus dem letzten Tor rechts von der Königsburg des Herodes kommend, vorüberzog. Schlanke, stolze Pinien, Ölbäume und Zypressen stehen hier, einzelne davon die Festungsmauer überragend, aber doch nicht so zahlreich, dass sie dem Schmerzbeladenen auf seinem Leidenswege Schatten und Kühlung hätten spenden können. Zwischen ihnen hindurch richten diejenigen, welche sich nicht die Zeit nahmen, den Dulder auf seinem letzten Gange zu begleiten, aus den Schießscharten und Spalten des Mauerwerks der Stadt ihre Blicke auf die Richtstätte, auf Golgatha. In dichtgedrängten Haufen harrt das Volk auch vor dem Gennator, das auch Gartentor genannt war, weil es an den Gärten des Herodianischen Königsschlosses lag, in welchem der römische Prokurator Pontius Pilatus residierte.
Die terrassenförmig aufgebaute, langgestreckte Stadt, deren Häuser meistens mit Kuppeln bedeckt sind, bietet ein malerisches Aussehen; eine Predigt von den platten Dächern würde weithin vernehmbar sein. Man eilt auf dieselben, wenn etwas zu sehen ist, und in den kühlen Abendstunden sucht dort die Bevölkerung Erquickung.
Zunächst fällt das vorhin erwähnte Königsschloss in die Augen, das in anspruchsvoller Architektur prangende Statthalterhaus, das Prätorium, das alle Gebäude der Stadt an Glanz und Vornehmheit überragt, und das der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus (geb. 37 n. Chr.) wiederholt unbeschreiblich, unvergleichlich nennt. Dieser Palast ist der Sitz des Hochmuts, der heidnischen Unduldsamkeit gegen das Predigerwort des nicht verstandenen Erlösers; er bildet das Hauptbauwerk der südwestlich gelegenen Oberstadt und war halb eine Zwingburg, halb ein feenhaftes Lustschloss. Eine Mauer von dreißig Ellen Höhe, bewehrt mit sechzig regelmäßig verteilten Türmen, lief um das Ganze von solchem Umfange, dass ein kleines Heer sich drin stellen konnte. Das Gebäude selbst, mit herrlichen Aussichten über ganz Jerusalem, lief in zwei kolossale Marmorflügel auseinander, deren königliche Pracht selbst das Wunderwerk des Tempels weit überbot. Unter den zahlreichen Gemächern, welche sich durch die Mannigfaltigkeit des Zierates und das reiche Gold- und Silbergeräte auszeichneten, ragten besonders hervor die großen Männer- und Tafelsäle, welche bis zu hundert Tischlagern, also für dreihundert ausgewählte Gäste, eingerichtet waren. Die Fußböden und Wände waren mit den vielartigsten und seltensten Steinen belegt, die Zimmerdecken zeigten riesiges Gebälke und prachtvolle Ornamentik. Draußen prangten verschlungene Säulengänge und daran sich reihende herrliche grüne Parke mit weiten Spazierwegen, tiefen Kanälen und Seen, während zugleich eine Menge zahmer Tauben auf ihren an den Bassins verteilten Türmchen die Belebung des Bildes vervollständigten.
Richten wir von dem Statthalterhaus unsere Blicke links, so sehen wir im südlichen Teil Jerusalems im Hintergrund einen Höhenzug, den Berg der Gräber, an dessen einem Abhang die Hohenpriester um das Sündengeld Judas' einen Töpferacker kauften, um ihn als Begräbnisplatz für die Fremden zu benützen; er erhielt den Namen Blutacker, mit Beziehung auf das blutige Ende, das Judas an dieser Stelle genommen hatte. Von den Franken wurde er der Berg des bösen Rates genannt, weil auf dieser Anhöhe das Landhaus des Hohenpriesters Kajaphas stand, in welchem dieser mit dem Verräter Judas, dem Mann von Kerijot, unterhandelte.
Doch lassen wir dieses Nachtgebiet! Mächtig zieht uns die Aussicht auf die Wüste Juda an, die wir über den Palast der Hasmonäer hin durch die den Ölberg im Süden teilende Schlucht gewinnen. Im reinsten Lichtglanz erscheint sie, da die Jerusalem und die nächste Umgebung bedeckende Finsternis hierher nicht gedrungen ist. Wie sehnsüchtig lenkt sich daher aus dem Dunkel der Blick in die hier sich öffnende freundliche, unabsehbare Ferne. Großartig, in Worten nicht wiederzugeben ist diese malerische Wirkung, unaussprechlich das seelische Empfinden dabei!
Wir scheiden von dem Rundgemälde unter dem Eindruck, dass die Kreuzigung Christi ein Panorama - ein Anschaubild - sondergleichen ist. Der Blick auf die unvergleichlich erhabene Szene ist von wahrhaft universaler Bedeutung, ein Einblick in die Höhen und Tiefen der geistigen Welt.
Auf Golgatha laufen die Fäden der Weltgeschichte zusammen. Die höchsten und heiligsten Ideen der Menschheit heften sich an den Kreuzespfahl und an den, der an ihm seine Seele ausgehaucht: Leben und Tod, Schuld und Sühne, Leiden und Opfer, Liebe und Erlösung. Es gibt kein ergreifenderes Symbol, keine vollkommenere Erfüllung des höchsten sittlichen Ideals der Menschheit, der allumfassenden, allversöhnenden, in dem Opfer des eigenen Selbst ihren Gipfelpunkt erreichenden Liebe, als den mit ausgebreiteten Armen, mit durchstochenem Herzen zwischen Himmel und Erde schwebenden Gekreuzigten, bei dessen Verscheiden die Erde selbst in ihren Tiefen erzitterte. Dieses Bild wird die Macht, die es nun schon über achtzehnhundert Jahre auf die Menschenherzen ausübt, ewig nicht verlieren. - So lange das Menschenleben zwischen Liebe und Leid sich bewegt, wird Golgatha die Augen der Menschenwelt auf sich ziehen. Dieser Auszug der Menschheitsgeschichte, dieses Abbild des Menschheitsloses, dieses wahre "Panorama" wird nicht aufhören, der Gegenstand der ehrfürchtigen Betrachtung und Verehrung, der frommen und zugleich echt menschlichen Rührung zu sein.